Der folgende Artikel, dessen Thema aufgrund gegenwärtiger politischer
Entwicklungen außerordentliche Brisanz hat und der einige wichtige
Diskussionen über Gesellschaftsordnungen behandelt, befasst sich mit dem
Begriff des Multikulturalismus und mit dessen Verallgemeinerung, dem
Pluralismus. Dieser bezeichnet das Zusammenleben von Menschen mit
unterschiedlichen Lebensstilen und Wertevorstellungen auf gemeinsamen
Raum, jener bezieht sich auf die Verschiedenheit des Kulturkreises von
Mitgliedern einer Gesellschaft. Mit dem Hinweis, dass deshalb alle
Aussagen zum Pluralismus auch als Aussagen zum Multikulturalismus
gelten, werde ich mich auf die Diskussion des ersteren beschränken.
Es sei zuallererst festgestellt, dass wir in einer pluralistischen
Gesellschaft leben. In Österreich leben Menschen mit unterschiedlichsten
Vorstellungen von einem rechten Leben, mit verschiedensten Ansichten
über Politik, Religion und Philosophie, mit individuellen Geschmäckern
und Vorlieben für Kleidung, Speisen, Musik, Literatur und Kunst, mit
mehr oder weniger engem Bezug zu Tradition und Bräuchen. Es sind Leute
aus aller Herren Länder, von denen keine zwei dieselben privaten und
beruflichen Ambitionen haben. Darüber hinaus lebt jeder in einem anderen
sozialen Gefüge, das er nach seinen Maßstäben definiert. Es gibt daher
schon längst kein einheitliches Familienkonzept mehr.
Nachdem wir also den Pluralismus als gegenwärtige und alltägliche
Tatsache einsehen, steht die Frage im Raum, ob eine solche
Gesellschaftsordnung wünschenswert ist. Von Konservativen gibt es
zahlreiche Einwände, die vor allem in der Sorge um traditionell
österreichische Kultur und Werte gründen.
Diese werden demnach durch
alternative Vorstöße in den Hintergrund gerückt oder gar zerstört. Nach
ihrem Bild befindet sich eine pluralistische Gesellschaft in einem
Kampf, der durch Isolierung und durch Zurückdrängen des Unerwünschten
beendet werden kann. Mit dem Verweis auf alle Verbrechen, die zwischen
Menschen verschiedener sozialer oder kultureller Herkunft geschehen,
wird der Pluralismus, obgleich als derzeitige Realität akzeptiert, als
gescheiterte Illusion und als Wunschtraum verworfen.
Stattdessen soll es
gemäß der Ansicht mancher Leute einzelne autonome Staaten geben,
zwischen denen möglichst wenig Migration stattfindet und innerhalb deren
Grenzen jeder aufrechte Bürger dem jeweiligen nationalen Kulturkreis
angehört, die jeweiligen nationalen Werte akzeptiert, die jeweiligen
Traditionen und Bräuche lebt und zu ihrer Förderung beiträgt.
Viele Konservative neigen in ihrer Betrachtung der Welt zur drastischen
Vereinfachung von äußerst komplizierten Sachverhalten. Dies zeigt sich
auch an oben beschriebenem Bestreben, Individualität auf Stereotypen zu
reduzieren. Auch in einem Österreich, in dem keine Zuwanderung
stattfindet, würde es niemals die nationalen Werte geben, niemals die nationale Weltanschauung, niemals das nationale Familienkonzept, selbst wenn es auf irgendeinem Papier geschrieben steht. Es würde weder die nationale Musik geben noch die nationale Literatur, weder die nationale Küche noch die
nationale Sprache. Nämlich zu glauben, dass sich Leben, Fühlen, Denken
und Schaffen von mehreren Millionen Menschen semantisch gehaltvoll unter
einem Begriff zusammenfassen lässt, das ist die eigentliche Illusion.
Zu denken, dass es irgendeine andere relevante gemeinsame Komponente
gibt als die, dass diese Menschen alle auf ein und demselben Raum leben,
den man durch künstliche Grenzen abgesteckt hat, das ist der
eigentliche Wunschtraum. Die Gesellschaft, die sich manch Konservativer
wünscht, in der er sich geborgen fühlt, die ihm Halt gibt, weil jedes
Mitglied in ihr genau so ist, denkt, fühlt und handelt, wie er dies
möchte; es gibt sie nicht, es hat sie nie gegeben und es wird sie
niemals geben, und man kann nur froh darüber sein. Wissenschaftlicher
und kultureller Fortschritt kann nur dort stattfinden, wo er zugelassen
wird, und eine Gesellschaft, in der jedes Individuum festgelegte und als
altbewährt deklarierte Werte vertritt und nach vorgesetztem Bilde lebt,
ist wohl ein denkbar schlechter Nährboden für großartige, innovative
Geister und kreative Künstler.
Für denjenigen, der den Pluralismus in Folge nicht nur als gegenwärtige,
sondern als unbedingte und notwendige, ja auch als wünschenswerte
Tatsache menschlichen Zusammenlebens eingesehen hat, stellt sich nun die
Frage nach Grundregeln für ein zufriedenes Miteinander. In diesem
Zusammenhang fällt meist das Stichwort Toleranz, die man anderen
Wertevorstellungen und Lebensstilen entgegenbringen sollte. Und es ist
einerseits eine traurige Konsequenz, andererseits eine geradezu
bezeichnende Ironie, dass eben jene, die den Pluralismus als gescheitert
ansehen wollen, kaum den geringsten Versuch unternehmen, ihre
Einstellung zu alternativen Konzepten dahingehend zu überdenken, dass
sie diesen nicht nur eine distanzierte Berechtigung zusprechen, sondern
auch eine gewisse Anerkennung entgegenbringen.
Es macht mich traurig mitanzusehen, dass es genug Menschen gibt,
deren individueller und rein privater Lebensstil Anlass für andere
Menschen ist, sie zu missachten. Diese Leute erfahren in der
Gesellschaft wenig Anerkennung, obwohl ihre Angelegenheiten niemand
anderen direkt betreffen und erst recht keiner Schaden daran nimmt. Sie
sind mit einer Geringschätzung konfrontiert, weil ihr Gegenüber seine
persönlichen Vorstellungen vom rechten Leben auf sie überträgt. Dieser
Inbegriff unvernünftiger Intoleranz macht das Leben in einer
pluralistischen Gesellschaft für viele Leute unfassbar schwierig.
Was weitere Grundregeln des Zusammenlebens betrifft, so habe ich mich
dazu bereits in zahlreichen Beiträgen zum Thema Ethik geäußert. Dies
kann unter der entsprechenden Rubrik nachgelesen werden.
Autor
Markus Hittmeir bloggt, veröffentlicht großartige Kurzgeschichten und hat bereits ein Buch publiziert.
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