23. Juni 2013

DER STANDARD-Kommentar "Steile Ansagen" von Markus Bernath

Die türkische Regierung muss sich über die jüngste Abfuhr der EU nicht wundern

Wien (OTS) - Sie haben verloren und verlieren nur weiter. Das Nein zur Öffnung eines neuen Kapitels bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU kann diese Woche die nächste große Niederlage für Tayyip Erdogan und seine Regierung bedeuten. Der türkische Premier hat den Weg der Konfrontation und der Unterdrückung der Protestbewegung in seinem Land gewählt, die man mittlerweile mit Fug und Recht eine Demokratiebewegung nennen kann. Dialog und Kompromiss wären der intelligente Weg gewesen. Jetzt aber lässt sich die türkische Regierung Tag für Tag als eine verbohrt-autoritäre Partie vorführen. Nichts gelingt ihr. Ein Debakel. Denn sie lernt auch nichts. Die Chuzpe, mit der Erdogan und sein Europaminister Egemen Bagif - auch kein Mann der abwägenden Worte - nun mit Parlament, Kommission und Regierungen in der EU umspringen, ist atemberaubend. 


Seit einer Woche erklärt Erdogan seinem Wählervolk, dass er keinen Deut auf das Straßburger Parlament gibt: "Wer bist du, dass du einen Beschluss über mich fassen kannst? Das ist nicht deine Sache." Den EU-Beitritt sieht er als naturgegebenes Recht, nicht etwa als Anerkennung für Verpflichtungen, die zuerst einmal zu erfüllen wären: "Die Türkei ist kein Land, das man vor der Tür warten lassen kann." Und Bagif, der Chefunterhändler mit der EU, droht der deutschen Kanzlerin wegen deren Kritik am Umgang mit den Demonstranten. Wer sich mit der Türkei anlege, ende wie Nicolas Sarkozy, der frühere französische Präsident und Türkei-Beitritts-Gegner, der 2012 die Wiederwahl verlor - so erklärte Egemen Bagif vor Journalisten in Ankara, kein bisschen gerührt von der Absurdität seiner Behauptung. Dass sich die türkische Regierung nun ungerecht behandelt fühlt, überrascht zeigt über die Einbestellung ihres Botschafters in Berlin und Empörung spielt über die wohl verpasste Chance eines neuen Verhandlungskapitels, heißt, die Europäer für dumm verkaufen zu wollen. Was anderes ist nach einer solchen Darbietung zu erwarten? Angela Merkel hat noch etwas Zeit, um ihren Fehler zu korrigieren, so ließ die türkische Diplomatie wissen. R

ealitätsverlust und Überheblichkeit sind ihr Markenzeichen geworden. Auch Außenminister Ahmet Davutoglu ist kompromittiert. Der immer reitende Bote der Demokratie in der arabischen Welt, in Afrika und Zentralasien hängt ebenfalls der Fiktion von der ausländisch gesteuerten, von übel meinenden Kräften angefachten Protestbewegung in seinem Land an. Davutoglu lässt nun prüfen, wer was im Westen über die Proteste in der Türkei sagt und schreibt. Die seit mehr als zehn Jahren amtierende, zu Beginn reformorientierte konservativ-islamische Regierung offenbart ein Gesicht, das man lieber nicht gesehen hätte. Sie organisiert und respektiert eher anstandslos demokratische Wahlen, doch die demokratische Kultur fehlt ihr. 

Das Recht auf freie Meinungsäußerung räumt die türkische Regierung den meisten ein (nicht den "Terroristen" der Linken und der Kurden). Aber die Idee akzeptiert sie im Grunde nicht: Jeder kann eine falsche Meinung haben und wird - so Gott will - früher oder später schon seinen Irrtum erkennen; und Pluralismus ist, wenn mehrere dasselbe denken. Hier liegt die Chance der jungen Demokratiebewegung. Sie ändert jetzt schon die politische Kultur der Türkei.

Quelle: APA-OTS, Aussender: "Der Standard"

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